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Nenn‘ mich Chuck.

KLISCHEES.

Reden wir kurz über Vorurteile. Das des harten Mannes, beispielsweise. Über echte Kerle und toughe Typen. Männer, die sich nicht haben aufweichen lassen von Genderwahnsinn, Homophilie und lästigen Gerüchten über irgendeinen Klimawandel. Unter diesen Pfosten des Patriarchats kursiert das Gerücht, Künstler seien allesamt Diven und empfindlich wie Mimosen. Mit Ambivalenzen können sie nichts anfangen, weil diese das fragile Weltbild ins Wanken bringen, in dem ein Mann seine Beute schweigend im blutverschmierten Lendenschurz nach Hause zu schleifen hat.

Darf ein echter Mann Schwäche zeigen? Wer empfindsam ist, gilt ja zumeist auch: als sehr empfindlich. Dabei haben Sensibilität und Schwäche herzlich wenig miteinander zu tun, werden der Einfachheit halber aber gerne gleichgesetzt. Derlei Rollenklischees, die wir uns geben und in denen wir landen, bestimmen auch das ach so aufgeklärte Theater. Die Figuren in Stücken, viel mehr jedoch: ihre Besetzung in Inszenierungen. Die Karriere eines männlichen, gutaussehenden Schauspielers beispielsweise verläuft gerne nach dem Prinzip „Jugendlicher Liebhaber“ – „Gereifter Bösewicht“ – „Richard III“ – Rente.

PRIOR

Als wir uns treffen, weiss ich von Nicola Mastroberardino nur, dass die sechs Stunden, die ich ihm beim Sterben zusehen durfte, zum Besten gehören, was ich bisher am Theater gesehen habe. In „Engel in Amerika“ spielt er Prior, einen zwischen Verzweiflung und Zynismus schlingernden New Yorker Homosexuellen, der sich zu Beginn der 80er mit HIV infiziert und bald darauf an AIDS stirbt. Selten habe ich mir nach 330 Minuten Theater gewünscht, dass es noch ein bisschen weitergehen möge.

Wem applaudierte ich da eigentlich am Ende der Vorstellung? Nicola Mastroberardino, der dem smarten, charmanten, humorvollen, sarkastischen, traurigen, wütenden, verzweifelten, schüchternen, grössenwahnsinnigen Prior so glaubhaft Körper und Persönlichkeit geliehen hatte? Oder Prior, in dessen Haut ein Schauspieler so mühelos schlüpfen kann?

Vermutlich ist es beides. Nicola Mastroberardinos Darstellung des Prior ist deshalb so phänomenal gut, weil sie einander widersprechende Klischees ganz selbstverständlich miteinander vereint. Prior ist sensibel, empathisch und dabei alles andere als schwach. Mastroberardino spielt die Rohheit und Zerbrechlichkeit, Hilflosigkeit und Tapferkeit, Stärke und Schwäche dieser Figur so mühelos, dass man auf die Idee kommen könnte, Geschlechterrollen seien immer nur so statisch wie die Ideenwelt ihrer Trägerinnen und Träger.

Mastroberardinos Darstellung des Prior ermöglicht es, dass es in diesem Stück, das im homosexuellen Milieu spielt, eigentlich gar nicht um Homosexualität geht. Sondern um Liebe. Um Vertrauen und Verlust. Um Krankheiten, Ängste und um Eifersucht. Um Macht. Und darum, wie restlos egal es ist, welcher Schublade sich jemand zugeordnet hat, wenn es schlussendlich ans Sterben geht. Mastroberardino spielt Prior so, dass sich Männlichkeit und ihre angeblichen Gegenteile zu einer Figur vereinen, die vor allem eines ist: durch und durch menschlich.

IM POTT.

Begonnen hat die Karriere Mastroberardinos 1978 in Zürich. Dort kam der Sohn eines italienischen Konsulatsangestellten und einer schweizerischen Kindergärtnerin zur Welt. Nach beendeter Schul- und Armeezeit reiste Nicola ein Jahr durch Lateinamerika, kehrte dann in die Schweiz zurück und begann zu studieren, womit er erst gegen Ende seiner Schulzeit in Kontakt geraten war: Schauspielerei.

Es lief ziemlich rund für ihn an der Schauspielschule: mit der „Leonce und Lena“ Inszenierung seines Kommilitonen und Freundes David Bösch wurde seine Klasse der damaligen HMT Zürich zum Schauspielschultreffen eingeladen. Dort gewannen sie einen Ensemblepreis und wurden daraufhin Hamburg beordert, wo Anselm Weber das prämierte Stück sah und kurzerhand mehrere Beteiligte ans Essener Stadttheater engagierte, dem er zu dieser Zeit als Intendant vorstand.

Unter Weber ging es in Essen bestens weiter. „Es war ein nahezu druckfreier Raum, ich konnte mich ausprobieren, wir hatten alle das Gefühl, auch scheitern wäre erlaubt.“ Fünf Jahre später wechselte Mastroberardino dann zusammen mit Weber und einigen Kolleginnen und Kollegen ans nahegelegene Schauspiel Bochum – und vorbei war es mit der grossen Freiheit. Jedenfalls zunächst.

Zehn Minuten dauert die Fahrt mit dem Regionalexpress von Essen bis Bochum. Ein Katzensprung im Grunde, der aber aus kultureller Hinsicht einem Sprung aus der Regional- in die Bundesliga ähnelt. „Der Druck in Bochum war enorm“, erinnert er sich, „die Presse hat uns Neue in der Luft zerpflückt, untereinander wurden dann plötzlich so richtig die Ellbogen ausgefahren“. Ein paar Mal haderte Mastroberardino in Bochum mit sich und seinem Job, erzählt er. Aber nach anfänglichen Schwierigkeiten wurde die Zeit in Bochum dann doch noch „richtig geil“, erzählt er, „das Kämpfen gegen die anfänglichen Widerstände hat sich gelohnt“.

AM RHEIN.

Hier in Basel ist er dann eher zufällig gelandet. Klar war bloss, dass es früher oder später zurück in die Schweiz gehen würde. „Deutschland war für uns von Anfang an irgendwie eine Transitzone“, erzählt er. „Spätestens zur Einschulung unserer ersten Tochter wollten wir wieder in der Schweiz sein“. Von einem Freund erfuhr er, dass Andreas Beck Schweizer Schauspieler für sein Basler Ensemble suchte. Er ging zum Vorsprechen nach Wien – und wurde engagiert.

Seit Mastroberardino mit seiner Familie aus Deutschland zurück in die schweizerische Heimat gezogen ist, ist es eng geworden im privaten Terminkalender der vierköpfigen Familie. „In Deutschland war es für meine Frau, die freischaffende Schauspielerin ist, schwieriger, Jobs zu finden. Davon hat unser Familienleben profitiert, weil sie mehr Zeit hatte für die Kinder und ich proben und spielen konnte, wie es gerade kam. Jetzt in der Schweiz hat sie viel mehr Angebote und holt beruflich all das nach, was ihr in Deutschland nicht so möglich war. Mich freut das total für sie, aber es macht unser Familienleben zeitlich nicht gerade unkomplizierter.“

Schauspieler haben per se schon nicht die zivilsten Proben- und Arbeitszeiten, und die Arbeit in der freien Szene erfordert dazu noch eine anders geartete Flexibilität als die in einem festen Ensemble. Da wird der Alltag zum Termin-Tetris.

BÄNDER.

Die Vorstellung, in der Mastroberardino von einem Tisch kracht, spielte er mit dem Segen des Theaterarztes zu Ende. Auch danach fällt vier Wochen lang keine Veranstaltung, an der er beteiligt ist, aus. Tagsüber schmerzt sein Knie zwar ziemlich. Auf der Bühne geht es dann aber irgendwie. Als wir uns treffen, ist die anfängliche Hoffnung, dass es mit ein paar Tagen Salbe gehen müsste, der Einsicht gewichen, dass es wohl doch die Diagnose eines Spezialisten braucht.

Es gibt zahlreiche Geschichten über SchauspielerInnen, deren Fieber für die Dauer einer Premierenvorstellung von 38.7°C auf 37.0°C sinkt, um direkt nach dem Schlussapplaus auf 39.5°C zu steigen. Über Tenöre mit ausgekugelten Schultern, die noch kurz die Vorstellung zu Ende singen, bevor sie sich in ärztliche Behandlung begeben. Jetzt gibt es auch die von Nicola Mastroberardino, der vier Wochen lang mit einem abgerissenen Kreuzband seine Arbeit macht.

Kreuzbandriss, das bedeutet im Zweifelsfall Zwangspause für Schauspieler. Zwangspausen bedeuten wiederum: Ab- oder Umbesetzung der Vorstellungen, an denen sie beteiligt sind. Für Menschen, deren Körperlichkeit ihr Kapital ist, können solche Zwischenfälle Gift sein. Manch einer beginnt nachzudenken über die Fragilität des künstlerischen Daseins. Solche plötzlichen Phasen der Selbstbesinnung können dazu führen, dass so ein Kreuzbandriss auch die mentale Beweglichkeit ganz erheblich einschränkt.

ZUNGEN.

So wie es aussieht, wird Nicola Mastroberardinos erfreulicherweise um etwaige Selbstzweifel herumkommen: sein neuer Arzt riet ihm von der zunächst unausweichlich scheinenden OP ab. Stattdessen drei Monate Physiotherapie, Muskelaufbau am Knie – „was die Zwangspause angeht“, schreibt mir Mastroberardino in einer Mail, „nenn‘ mich Chuck Norris“.

Auch wenn sie nötig geworden wäre, die Operation: die Selbstzweifel wären in Nicolas Fall ohnehin unnötig. Es wäre ein gewichtiger Verlust für die Bühne, wenn dieser Mensch sich aus dem Rampenlicht zurückzöge. Man will ihn wiedersehen, diesen freundlichen Vater zweier Töchter, der so überhaupt nicht dem Bild des extrovertierten Selbstdarstellers entspricht, das manch ein Schauspieler meint, auch privat von sich zeichnen zu müssen.

Ob es irgendeine Frauenrolle gäbe, die er unbedingt noch spielen wolle, frage ich ihn zum Schluss. „Die Seeräuber-Jenny aus der Dreigroschenoper, weil die dieses eine tolle Lied hat“, sagt er zunächst, denkt dann aber noch einmal nach. Dann beginnen seine Augen zu leuchten: „Wie heisst die, der die Zunge rausgeschnitten wird?“, fragt er, und beantwortet sich die Frage selbst: „Lavinia aus Titus Andronicus, die würde ich gerne machen“, sagt er.

Eine Frau also, der nach einer Vergewaltigung Hände und Zunge abgeschnitten werden, damit sie ihre Peiniger Demetrius und Chiron nicht verraten kann. Sofort nimmt die Figur in meinem Kopf Gestalt an. Nicola Mastroberardino wäre eine hervorragende Lavinia. Vielleicht sollte er Richard III einfach denen überlassen, die vor der Pensionierung noch einmal den harten Mann raushängen lassen wollen.

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