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Käffchen mit Liliane A.

Schwalben. Nach einer Dreiviertelstunde gelingt es mir endlich, die Vögel zu identifizieren, die zu hunderten auf ihren grauen Schlabberpulli gedruckt sind. In meinen Notizblock hatte ich zu Beginn unserer Unterhaltung „Möwenpulli?!“ gekritzelt.

Irgendwie hätte das auch zu ihr gepasst: Möwen. Sie hat was Norddeutsches. Nicht nur, weil auf ihrer Strickmütze ein Anker prangt. Ich kann sie mir gut an einem windigen, viel zu kalten Strand vorstellen. Ende September, heiter bis wolkig, zwischen zwei Dünen, mit einem Taschenbuch von Charles Bukowski, beispielsweise. Seltsamer Gedanke. Jedenfalls weiss ich, warum ich Autor und nicht Ornithologe geworden bin.

Esmée Liliane Amuat ist keine Muschelschubserin, wie man uns Küstenkinder ja gern verunglimpft. Sie ist Schweizerin. Zürcherin, um genau zu sein. Acht Jahre ihres zurzeit 26jährigen Lebens hat sie allerdings in Wien verbracht. Drei davon an der dortigen Schauspielschule, vier im Ensemble des Burgtheaters. Im dritten Jahr der Ausbildung direkt an die Burg gecastet zu werden, ist in etwa vergleichbar damit, vom Fahrprüfer aufgefordert zu werden, an der nächsten Kreuzung auf den Hockenheimring zu wechseln.

Die Frage „Wo willst Du beruflich hin?“ erübrigt sich also eigentlich. Über der „Burg“, wie sie von all denen genannt wird, die signalisieren möchten, sich im Theaterbusiness auszukennen, kommt nicht mehr viel im deutschsprachigen Bühnenbusiness. Ich stelle die Frage trotzdem. Sie denkt nach. Keine Antwort. Bei Liliane Amuat hat man aber so oder so das Gefühl, dass es schon gut kommen wird für sie.

Sie macht den Eindruck, als würde bei ihr die Kommunikation zwischen Bauch und Hirn recht gut funktionieren. Als sei sie jemand, der sich darauf verlassen kann, dass Verstand und Gefühl sich auf das Richtige und Gute einigen werden. Auch, wenn es mal ein bisschen länger dauert. Und auch, wenn dabei auf den ersten Blick vielleicht nicht immer das rauskommt, was ihr eine besorgte Tante raten würde.

„Zum Vorsprechen an der Burg bin ich damals eher unvorbereitet gegangen“, erzählt sie. Das sagt sie nicht, um als Wunderkind dazustehen: „Ich mag Monologe nicht so“. Statt also mit altgriechischen Selbstgesprächen im Gedächtnis vor die Jury zu treten, schleppte sie einfach einen befreundeten Schauspieler mit zum Casting. „Wir spielten grad eh ein paar Szenen zusammen“, erklärt sie ihre etwas eigenwillige Taktik, die Jury des Burgtheaters zu überzeugen.

„Wir mussten im Bühnenbild von «Der Zerbrochene Krug» spielen, das stand bei denen grad auf dem Spielplan. Die ganze Bühne war voll mit Schlamm, der war überall, das war natürlich super für uns“. Wer es super findet, unvorbereitet im Schlamm steckend eine der wichtigsten Kommissionen der hiesigen Theaterwelt zu bespassen, hat bei der Berufswahl Schauspielerin jedenfalls nicht viel falsch gemacht.

„Ich mag an meinem Beruf, dass er so vieles miteinander vereint“, antwortet Liliane auf die langweilige, aber unvermeidliche Frage, warum sie nichts Vernünftiges geworden ist. „Film, Literatur, Musik, das Menschliche – Theater vereint so viele Dinge miteinander, die mir wichtig sind“, sagt sie. Auch das erzählt sie nicht, um klug zu klingen. Es wirkt eher so, als staune sie noch immer darüber, dass sie aus ihren Leidenschaften tatsächlich einen Beruf machen konnte.

Davon, dass sie den wirklich gerne ausübt, kann man sich unter anderem in Martin Laberenz Inszenierung von „Das Sparschwein“ überzeugen, die noch bis zum 21.2.2015 am Theater Basel läuft. Liliane Amuat spielt in der Vaudeville-Komödie Blanche, die Tochter des Protagonisten Champbourcy, eine hohle Provinzdiva, bei der man Dekolleté und Denkvermögen nicht wirklich auseinanderhalten kann.

Das Stück provoziert Reaktionen zwischen „saukomisch“ und „Ja zur Absetzungsinitiative!“. Dazwischen gibt es kaum eine nennenswerte rezeptionelle Grauzone, wie es scheint. „Diejenigen, die nicht während der Vorstellung aufstehen und den Saal verlassen, finden’s meist ziemlich gut“, fasst Liliane die Reaktionen des Publikums zusammen. Es wirkt nicht so, als würde es ihr schlaflose Nächte bereiten, dass manch ein Gast frühzeitig aufsteht und nach Hause geht. Nicht, weil es ihr egal wäre, ob den Leuten gefällt, was sie sehen. Sondern weil sie es gut findet, wenn für jeden Geschmack etwas produziert wird. Nicht nur für die, die gerne ihren Pelzmantel im Rahmen der Hochkultur spazieren führen.

Liliane siedelt ihre Blanche irgendwo zwischen liebenswerter Dorf-Domina und nervtötender Bezirks-Barbie an. Spätestens als sie in einer Szene völlig entspannt am Pimmel eines splitternackten Kollegen baumelt und man ihr trotzdem weiter zuschauen und zuhören kann, ohne sich auch nur ansatzweise fremdzuschämen, begreift man, was Esmée Liliane Amuat auszeichnet: sie kämpft für ihre Rolle. Sie deutet die würdevoll-schlampige Landpomeranze nicht bloss an, ruht sich nicht aus auf vorhandenen Fähigkeiten, die sie zeigen könnte. Amuat spielt Blanche mit offenem Visier. Schmerzfrei, uneitel und ohne je der Versuchung zu erliegen, ihre nicht sonderlich tiefgründige Figur auszustellen oder gar zu verraten.

Dank dieser Bereitschaft, ohne Netz und doppelten Boden zu agieren, fühlt man sich auch als Zuschauer dazu aufgefordert, sich auf das Stück einzulassen, statt nur dazusitzen, hinzuschauen und auf das Pausenlicht zu warten. Ganz gleich, ob man die Inszenierung nun gelungen findet, ganz gleich, ob einen die erzählte Geschichte fesselt oder nicht.

Unelitär ist ein gutes Stichwort für die Begegnung mit Esmée Liliane Amuat. Ein Problem des Theaters ist ja, dass es vielen, die nicht mit oder gar in ihm aufgewachsen sind, als exklusiver Betrieb gilt. Als Ort, an dem von Auserwählten intellektuelles Zeugs für andere Auserwählte produziert wird. Nichts läge Liliane Amuat vermutlich ferner, als sich in einer solchen kulturellen Unnahbarkeit einzurichten. Sie wirkt wie eine, mit der man im klapprigen Auto johlend an die Côte d’Azur brettert, obwohl man eigentlich nicht mal das Geld hat, um sich den dortigen Zeltplatz zu mieten.

„Diesen Beruf macht man nicht, wenn es einem um’s Geld geht“, sagt sie. Auf die Frage, welches Buch sie empfehlen zu empfehlen habe, antwortet sie folgerichtig „Verschwende Deine Zeit“ von Julian Pörksen und Carl Hegemann. Liliane Amuat hat aus dem Glück in ein reiches, friedliches Erst-Welt-Land geboren zu sein, das Beste rausgeholt: ein Gefühl für Freiheit und Unabhängigkeit in Verbindung mit der Befähigung, diesen luxuriösen Cocktail auch tatsächlich zu geniessen. Vielen, denen es eigentlich prächtig gehen könnte, gelingt das nicht so wirklich, stellen wir fest. Und reden über das, was irgendwie zum künstlerischen Alltag zu gehören scheint: Sinnkrisen und psychische Defekte.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich bemüht, seriös zu wirken, Fragen zu stellen und nicht zu viel zu reden. Nun passiert das, was oft geschieht, wenn die Zerbrechlichkeit der menschlichen Psyche zum Thema wird: ich rede mehr, als es sich für ein Interview gehört. Ich erzähle ihr aus meinem Leben, und sie hört zu, sei es, weil sie es interessant findet, sei es, weil sie ein höflicher Mensch ist.

Nach einer weiteren halben Stunde haben wir uns auf folgende Punkte geeinigt: Kommunikation und Akzeptanz der Erkrankung sind wesentliche Aspekte bei der Genesung von allfälligen depressiven Störungen; viel zu viele Leute kreisen in unserer individualisierungssüchtigen Welt viel zu viel um sich selbst; das Theater als Ort professioneller Reflexion ist naturgemäss ein Sammelbecken zweifelnder Geister, weshalb man viele Menschen trifft, die nur auf den ersten Blick vor Selbstbewusstsein strotzen; man sollte wieder mehr im Wald und seltener im App-Store rumhängen.

Ihr selber scheint es, abgesehen von einem verknacksten Rücken, ziemlich gut zu gehen. Und auch in ihrer neuen Heimatstadt fühlt sie sich offensichtlich wohl. Vom Basler Theater schwärmt sie jedenfalls. Der Intendant gebe jedem Beteiligten das Gefühl, wichtig zu sein, und im Ensemble herrsche erfreulich wenig Futterneid. Das sei nicht an jedem Theater so, ergänzt sie grinsend, und mummt ihre zahllosen Schwalben in eine Winterjacke ein.

Es ist kurz nach sechs. Liliane muss los, noch etwas essen vor der Vorstellung um acht. Nach der Vorstellung gibt es in Basel ja nicht mehr viel, was nicht fett und auf die Dauer herzkrank macht, bemerkt sie. Das bedauert sie ein wenig. So wie ich bedauere, dass wir nicht mehr zur Klärung der zu Beginn unseres Treffens angerissenen Frage kommen, ob man der Demokratie die Demokratie zumuten kann. Ob das ein Zitat von Max Frisch sei, fragte sie, woraufhin ich sagte: „Nicht dass ich wüsste, aber danke für die Blumen. Ich werde auf jeden Fall schreiben, dass Du Quatsch aus meinem Kopf für Max-Frisch-Zitate hältst“. Ist hiermit dann erledigt.

Das von Liliane stammende Zitat, in dem von „Kunstschnee in jedem Loch“ die Rede war, reisse ich einfach mal nur an und lasse es dann unkommentiert im Raum stehen. Man schaue sich zur Aufklärung einfach ab 30. Januar 2016 Simon Stones preisgekrönte Bearbeitung von John Gabriel Borkman am Theater Basel an.

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