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Hannah.

Hannah gehört zu keiner akut bedrohten Tierart. Sie ist kein Flüchtling, kein von Überwachungskameras dokumentierter Fall willkürlicher Gewalt, keine Hungernde. Sie hat keinen Herzfehler, ihre Eltern leben noch, sie ist nicht arm. Niemand verfolgt sie ob ihrer politischen, religiösen oder sexuellen Neigungen. Weder wurde Hannah im falschen Körper geboren, noch hätte sie eine relevante kriminelle Karriere vorzuweisen. 

Hannah ist keine Leistungssportlerin. Sie hat keinen stationären Drogenentzug hinter sich gebracht, keine Aufenthalte in geschlossenen Psychiatrien und war noch nie in einem Kinderheim. Sie ist nie alleine zum Nordpol gewandert, hat keine Achttausender bestiegen und noch nie einem Menschen das Leben gerettet. 

Zu Hannas Lebzeiten gab es in ihrer Familie keinen einzigen wirklich überraschenden Todesfall. Niemand ist schwer krank geworden, überfallen, entführt, belästigt oder interniert. In ihrer Freizeit zündet Hannah keine parkenden Autos an und wirft keine brennenden Flaschen in Schaufenster gieriger Konzerne. Hannah war nie in einen lebensbedrohlichen Unfall verwickelt. Sie hatte kein offenes Schädel-Hirn-Trauma, keine Malaria, keinen Brustkrebs, keinen verfrühten Schlaganfall.

Hannah hat nie in einem Porno mitgespielt. Sie hat keine Dreier geschoben oder auf harten Drogen Sex gehabt. Hannah leidet unter keinen außergewöhnlichen Allergien und spricht keine aussterbenden Sprachen. Aufgrund ihrer fehlenden Kriegserfahrung weiss Hannah nicht, wie es ist, in einen Hinterhalt zu geraten, jemanden zu erschießen, jemandem die Kehle durchzuschneiden, Sprengsätze zu zünden oder mit einem Humvee durch ein Minenfeld zu fahren.

Das Gefühl, um ihr Leben laufen zu müssen, ist Hannah fremd. Sie ist nie mit Delfinen geschwommen und hat sich nie vor einem wilden Tier auf einen Baum gerettet. Hannah ist nicht mit dem Zelt um die Welt gereist, sie hat nie Fahrerflucht begangen und niemanden ins Krankenhaus geprügelt. Alle ihre Zähne sind echt. Noch nie war ihr Bein eingegipst, und ihre Gene lassen nicht darauf schließen, dass sie erblinden, frühzeitig versterben oder wahnsinnig werden könnte.

Fast alles, was Hannah über das Leben weiß, hat sie Büchern entnommen. Filmen und Zeitschriften. Liedern und Gedichten. Oder es wurde ihr von anderen erzählt. Hannah ist eine Empfängerin. Eine Erzählerin. Die Blässe ihres Lebens schmerzt sie. Die abgrundtiefe Schlichtheit ihrer Existenz.

Alles, was Hannah geschieht, ist irgendwie normal. Es wird von ihr einsortiert in das Regal mit mittelmäßig relevanten Erlebnissen, aus denen ihr Leben besteht. Alles, was ihr geschieht, wird irgendwann normal, damit es in ihr kleines Leben passt. 

Wie dieser Tag im Juli vor zehn Jahren, beispielsweise. Deutschland spielt Fussball gegen Portugal. Das kleine Finale der WM. Deutschland gewinnt. Es wird ein Feuerwerk geben. Hannah klettert durch eine Luke auf das Dach des verfallenen Altbaus, in dem sie als eine der letzten Verbliebenen noch wohnt. Um sich das Spektakel nach dem Abpfiff von oben anzusehen. Um Bilder zu machen.

Das Haus, auf dem sie steht, ist sechsstöckig, es überragt die umstehenden Gebäude um eine Etage. Der Blick über Berlin ist sensationell. Hannah kann den Messeturm im Südwesten sehen, den Dom, den Alex, die Stadtgrenze im Nordosten.

Als das Feuerwerk beginnt, stellt Hannah ihre Kamera auf den Sims eines Schornsteins und macht ein paar Testaufnahmen. Langzeitbelichtungen. Statische Stadt, verschwimmendes Feuerwerk. Weil ihr die Schornsteinperspektive nicht gefällt, geht sie in Richtung Dachkante.

Sie macht die letzten beiden Schritte auf den ungesicherten Abgrund zu, während ihre Gedanken einfach weiterlaufen. In ihrem Kopf macht sie den dritten Schritt, der ihren 25jährigen Körper sechs Stockwerke tief abstürzen lässt, hinein in den unbeleuchteten Hinterhof. 

Für eine Sekunde schwingt sich Hannahs Bewusstsein in den Sattel des Gedankens, den dritten Schritt zu machen und zu fallen. Es ist ein unspektakulärer Gedanke in diesem Augenblick, eine rein technische Betrachtung. So wie man sich, wenn man auf einen Bordstein zuspaziert, innerlich darauf vorbereitet, den Fuss zu heben. 

Während ihr Hirn drei Schritte macht, machen ihre Beine zwei. Dann fällt Hannahs Bewusstsein aus dem Sattel des gerade erklommenen Gedankens und erstarrt. Hannah steht am Rand eines Daches über Berlin. Unter sich einen gepflasterten Innenhof. Die Spitzen ihrer Sportschuhe ragen einige Zentimeter weit über die Kante des Daches hinaus ins Nichts.

Sie schwebt. 

Schwebt einen luftleeren Moment lang und stellt sich ihren Absturz vor. Den Aufprall. Fragt sich, ob sie vom Brechen ihrer Knochen etwas spüren würde. Vom Zersplittern ihres Ichs. Sie denkt an eine dunkle Stille, an eine warme Ruhe, sie ahnt für einen Augenblick das Nichts, in dem wir alle eines Tages landen. Das Universum ohne Stern. 

Hannah spürt dem Gedanken nach, dass es vorbei sein könnte mit dem, was sie zu diesem Zeitpunkt ihre Existenz nennt. Vorbei mit diesem sich selbst erhaltenden Konstrukt aus Angst und Einsamkeit, Verleugnung und Verdrängung, Begierde und Bedauern, Zweifeln und Zorn. 

Für einen Augenblick inszeniert sie ihren Absturz und empfindet keine Angst. Keine Zweifel. Keinen Zorn. Es ist ein friedlicher Aufprall. Ein friedlicher Schluss. Um sie herum steigen vereinzelte Raketen in den viel zu weiten Himmel, verpuffen in lächerlich bunten Flecken und stürzen still und unsichtbar zur Erde. 

Hannah schaut über ihre Zehenspitzen ihrem abgestürzten Gedanken hinterher. Sieht ihn dort liegen, unter sich im Hof. Mit gekrümmten Gliedern im Schatten der Häuser. Friedlich, rund 20 Meter weit unter ihr, auf Normalnull.

Dann fängt ihr Herz wieder zu schlagen an. Es schlägt ganz plötzlich rasend schnell, ganz plötzlich kehren sie zurück, die Ängste und Hemmungen, die einen Menschen im Allgemeinen davon abhalten, sich zu nah einem Abgrund zu nähern.

Der Selbsterhaltungstrieb schnürt Hannahs Kehle zu. Plötzlich hat sie Angst um sich. Sie tritt von der Dachkante zurück. Schaut auf in den Himmel, in dem noch immer die Discounter-Raketen explodieren. 

Zum ersten Mal fühlt Hannah wieder etwas, das sie vermisst hatte. Zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit entscheidet sie sich dafür, Hannah zu sein. Ihr eine Chance zu geben. Wirklich dafür, und nicht nur: nicht dagegen.

Sie steckt ihre Kamera in die Jackentasche, öffnet die Dachluke und klettert die sieben Sprossen zurück ins Dachgeschoss. Sie steigt die 24 Stufen hinab zu ihrer Wohnung, schließt die Tür auf und ist zurück in einer fremden Welt. In der schmutzigen Küche setzt sie sich auf das Ledersofa, das nicht ihr gehört, schaut aus dem ungeputzten Fenster in die Stadt, in die sie nicht gehört und ahnt, dass sich gerade etwas Grundlegendes verändert hat. 

Dass von jetzt an jeder Augenblick ein Bonus ist. Ein Bonbon. Eine Belohnung dafür, nur zwei Schritte gemacht zu haben. 

Von diesem Moment an versucht Hannah, den dritten Schritt zu einem Teil ihres Lebens zu machen. Zu einer Erfahrung, die in das Regal mit den Gewöhnlichkeiten passt. Zunächst lässt sie den dritten Schritt im dunklen Hof liegen, wo sich der Staub des Alltags auf ihn legt. Hannah verdrängt seine Existenz, die Notwendigkeit, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Aber eines Tages entdeckt Hannah ihn wieder. 

Erkennt ihn als das, was er ist, hebt ihn auf, pustet den Staub herunter und sortiert ihn ein zwischen all den anderen Erinnerungen, Erfahrungen und Erlebnissen, die ihr Leben sind. Ihr kleines, langweiliges, ereignisloses, ganz und gar durchschnittliches Leben, in dem es nie eine aussergewöhnliche Episode gab.

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